Genitalverstümmelung: Wenn das Menschenrecht „Unversehrtheit“ entfällt

Triggerwarnung: Dieser Text behandelt sensible Inhalte zum Thema der weiblichen Genitalverstümmelung. Solltest du dich damit nicht wohlfühlen, kannst du den Text gerne überspringen oder gegebenenfalls mit einer vertrauten Person gemeinsam lesen.

Leider gehört die Unversehrtheit des Körpers nicht bei allen Menschen zu den Grundrechten. Genitalverstümmelung ist in einigen Ländern immer noch eine ausgeübte Praxis, die vor allem junge Mädchen leidvoll erfahren. Dr. Annett Kleinschmidt operierte unter anderem für das Desert Flower Projekt und setzte sich damit ehrenamtlich gegen Genitalverstümmelungen ein.

SiClaro: „Unversehrtes Genital ist ein Menschenrecht“. Was sind deine Erfahrungen und Überzeugungen zu dieser Forderung?

Dr. med. Annett Kleinschmidt: Zum Glück ist es in sehr vielen Ländern dieser Welt oberstes Menschenrecht, dass jeder Mensch selbst über seinen Körper und dessen Unversehrtheit entscheiden darf. Allerdings gibt es Schwellen- und Entwicklungsländer, in denen ich auch selbst gearbeitet habe, wo nicht alle Frauen dieses Recht auf Unversehrtheit ihres Genitals haben. Dies ist ohne jede Diskussion für mich eine Verletzung der Menschenrechte. Auch wenn wir nicht die ganze Welt heilen und retten können, kann jedoch jede*r einen kleinen Beitrag ehrenamtlich leisten. Bis ins Jahr 2015 war ich als Oberärztin in der Abteilung für plastische Chirurgie in Berlin tätig. Stellvertretend für meine Abteilung im Heliosklinikum habe ich damals für Desert Flower Patient*innen mitoperiert. Das Desert Flower Projekt behandelt sogenannte FGMs, Female genital mutilation (=weibliche Genitalverstümmelung). Hier werden Frauen rekonstruktiv medizinisch versorgt, die im Alter zwischen 4 und 14 Jahren als Mädchen ohne Narkose gegen ihren Willen beschnitten wurden. Weltweit sind davon heute leider immer noch laut WHO 200 Millionen Frauen aus ca. 30 Ländern, vor allem afrikanischen Ländern betroffen.

Warum sind wir der privilegierten Ansicht, dass Genitale ein unversehrter Bereich sein sollte?

Wir sind nicht privilegiert, sondern leben in einem Land, in dem die Menschenrechte auf Unversehrtheit des Körpers respektiert und gelebt werden. Deshalb sollte es in allen Ländern dieser Erde eine absolute Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit sein, dass jeder Mensch über seinen Körper selbst entscheiden darf.

Was war dir bei der Arbeit für das Desert Flower Projekt besonders wichtig?

Für Desert Flower habe ich im Rahmen meiner klinischen Tätigkeit gearbeitet. Ich bin seit 25 Jahren im Rahmen ehrenamtlicher Projekte karitativ ärztlich tätig. Ich habe ein Hilfsprojekt in Südamerika in Paraguay gegründet, welches wir mit unserem Team selbst fundraisen und organisieren. Hier operieren wir nicht krankenversicherte paraguayische Patient*innen, vorrangig aus der indigenen Bevölkerung, die mit schweren Fehlbildungen geboren wurden oder Fehlbildungen durch Verbrennungen erworben haben. Dazu gehören auch indigene Patient*innen, die durch Verbrennungen am offenen Feuer im Intimbereich schwerstverbrannt sind oder welche in ihren Tribes vergewaltigt wurden. Diese Operationen machen wir während privaten Reisen und ehrenamtlich mit eigenem Projektfundraising.

Was erlebst du bei deinen karitativen Einsätzen im Vergleich zu denen in deinen Praxen?

Diese karitativen Einsätze sind für unser gesamtes Team ganz besonders: Wir kommen mit nichts und gehen mit so viel im Herzen. Einerseits erleben wir teilweise schwer traumatisierte Patient*innen, die eine tragische Leidensgeschichte hinter sich haben und extrem dankbar für unsere Arbeit und die geleistete Hilfe sind. Andererseits macht uns diese Dankbarkeit unserer Patient*innen und ihrer Familien so viel Freude und gibt uns so viel zurück. Natürlich erlebe ich in meiner Praxis auch Dankbarkeit. Aber diese ist anders. In meiner Praxis geht es oft um einen sehr hohen ästhetischen Anspruch. Bei unseren Projektpatient*innen geht es darum, Schmerzen loszuwerden, funktionelle Einschränkungen durch Kontrakturen oder Fehlbildungen zu beseitigen. Dafür kommt eine unendliche und ehrliche Dankbarkeit seitens der Familien und unserer Patient*innen zurück, die überwältigend ist. Wenn ich mich in unserem Alltag nach Projektrückkehr wieder einfinde, merke ich, wie schwer es mir fällt, mir ständig Beschwerden über kleine Alltagsthemen unserer Wohlstandsgesellschaft anzuhören.

Vielen Dank an Dr. med. Annett Kleinschmidt, die sich Zeit für unsere Fragen genommen hat. Dr. med. Annett Kleinschmidt arbeitet als Fachärztin für Plastische und Ästhetische Chirurgie und als Fachärztin für Chirurgie in Berlin und München.

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Lisa

Lisa Claus ist unsere SiClaro Hausautorin